Wissenschaftsgeschichte: James Chadwick und seine Entdeckung des Neutrons

Wissenschaftsgeschichte: James Chadwick und seine Entdeckung des Neutrons
4. Oktober 2024
Wissenschaftsgeschichte: James Chadwick und seine Entdeckung des Neutrons

Den Bausteinen der Materie auf der Spur: Chadwicks Pionierleistung für die Kernphysik

Am 20. Oktober hat James Chadwick Geburtstag. Der englische Physiker wurde als Entdecker des Neutrons berühmt. In diesem Artikel widmen wir uns dem Physik-Nobelpreisträger von 1935, dessen Pionierarbeit für unser heutiges Verständnis des Atoms wesentlich war und den Weg für wichtige Fortschritte in der Atomwissenschaft und Kerntechnik geebnet hat.

 

Die Suche nach einem neutralen Teilchen 

Nach der Entdeckung der Kern-Hülle-Struktur des Atoms nahm die Wissenschaft zunächst an, dass der Atomkern lediglich Protonen enthält. Unterschiede zwischen der Kernladungszahl Z und der Massezahl A deuteten jedoch darauf hin, dass es noch andere Materieteilchen geben musste. Die Hypothese, dass es sich dabei um  Kernelektronen handeln könnte, wurde durch die Heisenbergsche Unschärferelation widerlegt.

Anfängliche Theorien und das Rutherfordsche Atommodell

Ernest Rutherford, ein Pionier der Kernphysik, postulierte bereits 1920 die Existenz eines neutralen Teilchens mit einer Masse, die mit der eines Protons vergleichbar ist.

Einen der ersten Grundsteine zur Entdeckung des Neutrons legten Walther Bothe und sein Student Herbert Becker. 1930 entdeckten sie beim Beschuss von Beryllium mit Alphateilchen eine neutrale Strahlung, die sogar zentimeterdicke Bleiplatten durchdrang. Zunächst hielten die Wissenschaftler diese Strahlung für Gammastrahlung, doch das Verhalten der Strahlung ließ bald Zweifel an dieser Annahme aufkommen.

Experimente von Irène und Frédéric Joliot-Curie liefern neue Erkenntnisse

Bei Versuchen mit der Berylliumstrahlung stellten Irène und Frédéric Joliot-Curie ein Jahr später Folgendes fest: Lässt man die Strahlung in eine Ionisationskammer treffen, so zeigt diese keinen nennenswerten Strom an. Platziert man dagegen vor der Ionisationskammer eine wasserstoffhaltige Materialschicht wie Paraffin, so führt dies zu einem deutlichen Anstieg des gemessenen Stroms. Als Ursache für den Stromanstieg in der Ionisationskammer vermutete das Ehepaar Protonen, die durch die Berylliumstrahlung aus dem Paraffin herausgelöst werden und infolgedessen die Ionisierung der Ionisationskammer bewirken. Ihre Beobachtungen von Rückstoßprotonen in einer wilsonschen Nebelkammer schienen diese Hypothese zu bestätigen. Als Auslöser vermuteten sie eine Art Comptoneffekt. Weitere Berechnungen zeigten jedoch, dass zur Erzeugung der beobachteten Protonenspuren eine unrealistisch hohe Gammaenergie erforderlich wäre.

Chadwicks Beweis revolutioniert das Verständnis vom Aufbau der Atome

Die darauf aufbauenden Experimente von James Chadwick konnten Bothes These endgültig widerlegen. Durch Messung des Impulses und der Energie der beim Beschuss von Beryllium mit Alphateilchen entstehenden Teilchen gelang ihm der Beweis, dass es sich bei der beobachteten Berylliumstrahlung in Wirklichkeit nicht um Gammastrahlen handelte, sondern um einen Strom von sich schnell bewegenden, elektrisch neutralen Teilchen, deren Masse in etwa der eines Protons entspricht. Diese Beobachtung deckte sich mit Rutherfords Hypothese. Chadwick gab den Teilchen daraufhin den Namen „Neutronen“. 

Ein Paradigmenwechsel in der Teilchenphysik

Chadwicks Entdeckung markierte einen bedeutenden Wendepunkt in der Teilchenphysik, indem sie unser Verständnis der Atomstruktur vervollständigte: Ein Atom besteht demnach aus einem Kern, der Protonen und Neutronen enthält, und ist von einer Elektronenhülle umgeben. In einem elektrisch neutralen Atom entspricht die Anzahl der negativ geladenen Elektronen in der Elektronenhülle exakt der Anzahl positiv geladener Protonen im Kern. Die Anzahl der Neutronen im Kern kann dagegen variieren.

Für seine bahnbrechende Leistung erhielt James Chadwick 1935 den Nobelpreis für Physik. 

Eine Entdeckung mit weitreichenden Folgen 

Chadwicks Arbeit hatte eine Reihe unmittelbarer und einschneidender Folgen. Anders als Protonen und Alphateilchen, welche die Coulomb-Barriere überwinden müssen, können Neutronen Atomkerne auch bei niedrigen Geschwindigkeiten durchdringen. Damit eröffnete die Entdeckung neue Perspektiven, und begeisterte Teilchenphysiker machten sich daran, die Wirkungen der „neuen“ Strahlung auf verschiedene Materialien zu untersuchen. Im Jahr 1942 gelang Enrico Fermi mit Chicago Pile 1 ein wichtiger Meilenstein: Es war die erste von Menschenhand durchgeführte und sich selbst erhaltende Kernspaltungs-Kettenreaktion.

Die Kernspaltung, bei der ein Atomkern unter Energiefreisetzung in zwei oder mehr kleinere Kerne zerlegt wird, hat ein großes Spektrum von neuen Anwendungen im zivilen und im militärischen Bereich eröffnet:

  • Die Stromerzeugung in Kernkraftwerken stellt eine saubere und zuverlässige Energiequelle dar, die zur Verringerung der Treibhausgasemissionen beitragen kann.
  • In der Medizin werden Radioisotope für die diagnostische Bildgebung und die Krebsbehandlung eingesetzt.
  • Isotope kommen auch in der Industrie zur Anwendung, beispielsweise, um medizinische Geräte oder Produkte in der Endverpackung zu sterilisieren, und natürlich auch zu Forschungszwecken.
  • Andererseits haben die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki mit ihren verheerenden Folgen zu verstärkten internationalen Bemühungen wie dem Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrags (NVV) geführt, um die Verbreitung von Kernwaffen und die Gefahr eines nuklearen Krieges einzudämmen.

Die Neutronenforschung ist ein Eckpfeiler der modernen Physik, da sie wesentliche Erkenntnisse über die grundlegenden Bausteine der Materie und die Kräfte, die ihre Wechselwirkungen bestimmen, liefert. Die außergewöhnlichen Eigenschaften von Neutronen ermöglichen es Forschenden, die innere Struktur von Materialien im Detail zu untersuchen und Fortschritte in Bereichen wie der Physik kondensierter Materie, der Materialwissenschaft und der Nanotechnologie zu erzielen.

Goodfellow-Materialexperte Charlie Briggs erklärt es folgendermaßen:

Die Entdeckung füllte eine entscheidende Lücke im Verständnis der atomaren Struktur. Frühere Modelle konnten bestimmte Verhaltensweisen von Atomen nicht erklären, beispielsweise die Existenz von Isotopen oder die Massendiskrepanz bei schwereren Elementen. Neutronen spielen eine wichtige Rolle in der Kernfusionsforschung, die in Zukunft einen bedeutenden Beitrag zur Deckung des globalen Energiebedarfs leisten könnte.

Neutronen im Universum:
Neutronensterne und Pulsare

Neutronen spielen im Lebenszyklus von Neutronensternen und Pulsaren eine wesentliche Rolle:

Wenn ein massereicher Stern seinen nuklearen Brennstoff verbraucht hat, fällt sein Kern unter seiner eigenen Schwerkraft zusammen, und es kann zu einer gewaltigen Supernova-Explosion kommen, die einen Kern von unvorstellbar hoher Dichte zurücklässt. Beträgt die Masse dieses Kerns zwischen 1,4 und drei Sonnenmassen, kollabiert er zu einem Neutronenstern. Protonen und Elektronen werden dabei in Neutronen umgewandelt, und es entsteht ein äußerst schwerer Himmelskörper, der fast ausschließlich aus Neutronen besteht. Neutronensterne sind unglaublich kompakt: Bei einem Radius von nur ca. 10 km enthalten sie mehr Masse als die Sonne.

Pulsare sind schnell rotierende Neutronensterne, die von ihren Magnetpolen elektromagnetische Strahlen emittieren. Zur gepulsten Strahlung (daher die Bezeichnung Pulsar) kommt es, wenn Rotations- und Magnetfeldachse des Neutronensterns in ihrer Ausrichtung voneinander abweichen. Trifft der Strahlungskegel, vergleichbar mit dem Lichtkegel eines Leuchturmes, die Erde, scheint der Stern kurz aufzublitzen oder zu pulsieren.

Die Erforschung von Neutronensternen und Pulsaren liefert wertvolle Erkenntnisse über das Verhalten von Materie unter extremen Bedingungen, das Wesen von Gravitationsfeldern und die grundlegenden Eigenschaften von Neutronen selbst.

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